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Nachstehend Lesen Sie
die Erzählung eines Zeitgenossen, Johannes Kleinpaul, der die Greisin einst
besucht hatte und einen anschaulichen Bericht verfasste, der
uns einiges über das Leben in den Moorkolonien überliefert.
(Jantje sprach Ostfriesisch Platt, was sie sagte, habe ich in runden
Klammern stehend frei ins Hochdeutsche übersetzt) [Erklärungen und
Anmerkungen meinerseits sind in eckigen Klammern eingefasst]
Jürgen Adams
Jantjemöj im Moor
von Johannes Kleinpaul
So kamen wir in
unterhaltsamer Fahrt nach Voßbarg. Da hieß es denn: aussteigen, weil wir
noch ein Stück weiter auf unbefahrbarem Wege zu ”Jantjemöj" gehen
mussten. Der letzte Rest wurde uns von drei Bäuerinnen, die am äußersten
Waldrand standen, freilich wenig freundlich, nur mit der Hand gewiesen:
"All to Jantjemöj?" war das einzige, was sie staunend
hervorbrachten. Zugleich deuteten sie an, dass schon andere Besucher vor
uns da waren. Der sich hierin aussprechende Neid ist verständlich, denn
Jantjemöjs einzige Tugend ist schließlich auch nur ihr ausnahmsweise hohes
Alter.
Als sie vor zwanzig Jahren noch ebenso fest auf den Beinen stand, wie alle
anderen Großmütter in Voßbarg auch, hatte kein Mensch nach ihr gefragt.
Erst nachdem sie ein ganzes Jahrhundert still durchlebt hatte, schlug die
Geburtsstunde ihres Glücks, ihrer Berühmtheit, denn berühmt ist sie jetzt.
Aus ganz Ostfriesland empfängt sie zur Sommer- und Winterzeit Besuche.
Sogar manche, die in der neuen Welt [Amerika] eine zweite Heimat gefunden
haben, wenden einen Tag daran, sie zu sehen, ehe sie über das große Wasser
zurückkehren.
Jetzt wird ihre Hütte
sichtbar, weit abgesondert von allen übrigen, einsam im schweigenden Moor,
vor einem unendlich weiten, flachen Horizont voll rotglühender Heide. Ein
gar armselig aus Schilfrohr und Lehm zusammengepapptes Anwesen, das aber
doch bei aller Winzigkeit von knapp 10 Schritt Länge und 4 Schritt Breite
ganz den Stil der großen Plätze [Bauernhöfe] einhält. Mit einem engen
Schornstein am Nordgiebel und das Dach über dem seitlichen Anbau so tief herniederhängend,
dass es ein vierjähriges Kind greifen kann.
Hier wohnt die Greisin
noch immer ganz mutterseelenallein mit ihrem kleinen Spitz. Sie schöpft
noch immer Regenwasser aus gefahrvoller Backe [offener Moorbrunnen] und
täglich schürt sie ihr Herdfeuer. Noch letztes Jahr hat sie zwei Acker
Kartoffeln gelegt und auch wieder geerntet. Durch die kleine Tür geht's in
einen engen Vorraum mit dem nötigsten Wirtschaftsgerät, von wo auch die
Stiege zum Torfboden hinaufführt. Dann betreten wir den
einzigen Wohnraum, der zugleich Wohn- und Schlafstube ist. An der
Wetterseite ist der Herd aufgemauert und an die schmale Südwand neben der
Tür ist ein altertümlicher Bettschrank angezimmert. Die Alte, an
"Anschprache" [Aufmerksamkeit] gewohnt, an ihrem Fenster mit
vielen billigen kleinen Scheiben sitzend, auf dessen Bord blaue
Enzianblüten im Glase stehen, macht kein Hehl aus ihrer spärlichen
Wirtschaft.
"Nu kaamt man gau
in d' Köken!" (Nun kommt mal schnell in die Küche) begrüsst sie uns
herzlich. Dann sich sofort zum Herde wendend, wo der Teekessel am eisernen
Haken hängt, sagt sie, mehr zu sich selbst: "Nu is 't Füür haast ut,
annes wull 'k Jo noch wolI'n Koppke Tee maken" (Jetzt ist das Feuer gerade
aus, sonst hätte ich Euch noch ein Tässchen Tee machen wollen), sie hätte
alles kochende Wasser schon in ihre "Pülle" (Wärmflasche)
gegossen, die sie "mit up Bedd (ins Bett) nehmen wull
(wollte)".
Da fragte sie: "Wat sün Ji vör Volk, wo hör Ju binanner?" (Was
seid Ihr für ein Volk (wer seid Ihr), zu wem gehört Ihr
[Die Erläuterung, wer in der Familie mit wem aus einer anderen Familie in
irgendeiner Form zu verbinden ist, ist noch heute bei älteren Leuten ein
geläufiger Brauch. " Dieser ist ein Vetter von a, jener ein Schwager
von b ", wobei a und b verwandt oder bekannt mit dem Fragenden war.
Als sie hörte, dass mein Begleiter aus Moorlage stamme, wurde sie
ordentlich lebhaft: "Wat, du büst ut Moorlage? Un nu wohnst heel in
Emden? In Moorlage hett mien Bröör Marten ja wahnt, de is nu al dood."
(Was, Du bist aus Moorlage? Und jetzt wohnst Du ganz in Emden?
In Moorlage hat mein Bruder Marten [Brinkmann] ja gewohnt, der ist jetzt
schon tot).
Da sie merkte, dass wir
sie und ihren Anzug betrachteten, meinte sie: "Vandaag bün ik nich
moi, man sünst sönndags dann sett ik mien Hüll'up, dann seggen de Lü
allmetts, Jantjemöj lett noch nett as 'n jung Wicht." (Heute bin ich
nicht schön [zurechtgemacht], aber sonntags, dann ziehe ich meine
guten Kleider an, dann sagen die Leute alle, Jantjemöj ist noch ganz wie
ein junges Mädchen)
Eine junge Dame
bemerkte, dass sie sie schon von ihren Ansichtspostkarten kenne. Sie wusste
aber gar nicht, dass es solche überhaupt gibt.
"lk will jo een stüren", (ich will Ihnen eine zusenden) meinte
daraufhin die junge Frau. "Denn moots hum man 'n goden sekern Keerl
mitgeven, 'n Schipper of so, anners kunn 'k hum woll nich kriegen, denn
holl'n se hum" (dann musst du darauf achten, sie einem guten,
ehrlichen Kerl mitzugeben, einem Schiffer oder so, sonst werde ich sie wohl
nicht erhalten, dann behalten die sie) meinte Jantjemöj.
Als dieselbe junge Dame sie fragte, ob ihr denn diese Einsamkeit auf ihre
alten Tage, namentlich jetzt zum Herbst, nicht leid würde, sah sie uns
beinahe vorwurfsvoll an:
"Alleen? De leev Gott is noch alltiet bi mi west."
(Allein? Der liebe Gott ist noch immer bei mir gewesen),
”Und so wollen Sie immerfort hier bleiben?"
“Jawoll, wenn ik nich weer trau'n kann, moot ik ja woll"
(Ja, wenn ich nicht wieder heiraten kann, muss ich ja wohl [bleiben]).
Und lächelnd fügte sie
noch hinzu: "Man mi sall ok woll kien een mehr hemmen willen, ik hebb
kien Tann of Kuus mehr in d' Mund." (Aber, mich wird auch sicher
keiner mehr haben wollen, so ohne Zähne im Mund). Dann wandte sie sich
wieder an ihrem Moorlager Freund: "Man nu segg, wo olt büst du
denn?" (Sag mal, wie alt bist Du denn?) "Negenunfievtig."
(Neunundfünfzig) "Ach dat is ja noch man'n Humioller, kannst noch nich
mitproten (Ach, das ist ja noch kein Alter, kannst ja gar nicht
mitreden). lk weer do in mien beste Johrn un muss de hele Winter na't Moor
hen to hacken" (Da war ich in meinen besten Jahren und musste den
ganzen Winter zum Moor hin zum Hacken.)
Nun fragten wir nach
den Erlebnissen ihres langen Daseins. Das Interessanteste fiel in ihre
Frühzeit. Als die Franzosen 1812 hier im Lande waren, schleppten sie ihren
Vater, der sich gerade mit seinem Torfschiff in Emden befand, mit vielen
anderen Ostfriesen fort, nach Toulon. Damals machte auch Jung Jantje ihre
weiteste Fahrt, um das Schiff zurückzuholen. Erst zwei Jahre später kam
Vater wieder heim: "Man dat weer'n Bliedskupp, as Vader weerkweem, wie
hebbt all rast (Man, waren wir froh, als Vater wiederkam, wir haben vor
Freude getobt). ”Ja, ik heff vööl beleevt, min Vader is fröh stürben, mien
Moder bleev mit'n Huus vull lütje Kinner sitten, ik bün neet vööl na de
Schole henkomen”, (Ja, ich hab viel erlebt, mein Vater ist früh gestorben,
meine Mutter blieb mit einem Haus voll kleiner Kinder zurück, ich bin nicht
viel zur Schule gewesen). Lesen hebb ik lehrt, aber neet schrieven, ik muss
up de Lüttjen passen. (Ich habe lesen gelernt, aber nicht schreiben, ich
musste auf die Kleinen aufpassen.)
Mien eerste Stee was bi'n Jöde in Auerk, de muchen mi geern lieden,
mal sä de Fro an mi: Jantje, ik wull, du harrst uns Glove, denn wüss ik för
uns Söhn keen beter Fro as di". (Meine erste Anstellung hatte ich in
Aurich bei einem Juden, die mochten mich gern leiden, einmal sagte die Frau
zu mir: Jantje, ich wollte, du hättest unseren Glauben, dann wüsste ich für
meinen Sohn keine bessere Frau als dich).
Man dat harr'k noit daan, wenn ik nü ok noch so goot setten kunnt harr, na
en Glove, wor'k to sworen harr, wull'k ok hollen. (Aber das hätte ich nie
getan, wenn ich es auch noch so gut getroffen hätte, meinen Glauben, auf
den ich geschworen hatte, wollte ich auch halten).
lk hebb en goden Mann hatt, BalsOhm [der legitime Familiennahme JantjeMöjs,
unter dem man aber vergeblich nach ihm herumfragen würde, lautet Saathoff],
de is nu ok al dood, siet teihn Jahrn, man unse golden Hochtiet kunn' wie
noch maken. (Ich habe einen guten Mann gehabt, BalsOhm [Onkel Bals] der ist
nun auch schon tot, seit zehn Jahren, aber unsere goldene
Hochzeit konnten wir noch feiern)
Fieftig Johr, dat is 'ne lange Tiet, wenn man se vör sük liggen sücht, dat
is 'ne körte Tiet, wenn man se sücht van achtern an, se sünd to lang, um se
to verlehren, se sünd to kört um uttolehren. (Fünfzig Jahre, das ist eine
lange Zeit, wenn man sie vor sich liegen hat, das ist eine kurze Zeit, wenn
man von hinten zurückschaut, sie sind zu lang um sie zu vergessen, sie sind
zu kurz, um alles lernen zu können)
Un ik hebb ok goode Kinner, se hebben goot wat lehrt, dat harr ik mi
vörnomen, de Kinner sullen na de School un wenn ik de Boken ok börgen must
harr.
(Und ich habe auch gute Kinder, sie haben gut was gelernt, das hatte ich
mir vorgenommen, die Kinder sollten zur Schule, auch wenn ich die Bücher
hatte leihen müssen)
As uns ollste Jung bi de Buur was, kwamm de Buur bi uns un sä: 'He
maakt sük goot, sall he dat anner Jahr bi mi blieben'? Nu, BalsOhm was't
recht, mi was't recht, he bleev. (Als unser ältester Sohn beim Bauern
[angestellt] war, kam der Bauer zu uns und sagte: Er macht sich gut, soll
er nächstes Jahr noch bei mir bleiben?
Nun, BalsOhm war es recht, mir war es recht, er blieb)
Do kummt unse Jung uns up'n Sönndag up Besöök, ik maak mit hum en
Keierpaddje bi de Rogge langs, he was so still.
(Einmal, da kam unser Sohn sonntags zu uns auf Besuch, ich machte mit ihm
einen kleinen Spaziergang am Roggen lang, er war so still)
.
lk doch, Watt hett uns Harm wall, düürt noch en Settje, do sä he: 'Moder,
de Maid, de bi uns deent, de kummt van mi in de Weken'. (Ich dachte, was
unser Harm wohl hat, es dauerte noch ein Weilchen, da sagte er: Mutter, das
Mädchen bei uns im Dienst, sie ist von mir schwanger)
't was as wenn ik de Sprake verlor, man do sä 'k an hum: 'Wenn du dat Wicht
schändt hest, dann sallst du hör ok ehren, meenst du dat naher Kinner van
BalsOhm un Jantje Möh bi de Weg liggen söllen, de neet weten, wat hör Vader
is?"
(Es war, als wenn ich die Sprache verloren hätte, doch dann sagte ich zu
ihm: Wenn du das Mädchen geschändet hast, dann musst du sie auch ehren,
meinst du, dass hinterher [Enkel]Kinder von BalsOhm und JantjeMöj in der
Wiege liegen sollen, die nicht wissen, wer ihr Vater ist?)
Mittlerweile sahen wir nach der Uhr.
Es war spät für uns, erst recht spät für JantjeMöj, für die jetzt
gewöhnlich der Tag schon um vier zu Ende ist, und wir konnten von Glück
sagen, dass sie uns überhaupt noch "Ansprache" gewährte. Ein
anderer, der einst um dieselbe Zeit bei ihr anklopfte, lockte sie nur damit
aus der Falle, dass er ihr durchs Fenster wies, was für einen schönen
"SünnerKlaas" [Nikolaus-Gabe] er ihr mitbrachte, da räumte sie
denn nochmals die Eimer und sonstiges Hausgerät vor der Tür weg, mit dem
sie sich gegen die "Nachtlopers" (Nachtläufer) verbarrikadiert
hatte. "Dat mi dar nachts kien Räubers und süks Schojerpack
inbreckt." (Damit mir da nachts keine Räuber und solch Gesindel
einbricht) Beim Abschiede, als auch wir der merkwürdigen Alten eine
Kleinigkeit in die Hand drückten, meinte sie: "Mag je good gahn,
heiraat bold, Gott mag sien Segen darto geben. "(Möge es euch gut
gehen, heiratet bald, Gott möge seinen Segen dazu geben)
So treten wir, um eine
eigenartige Erinnerung reicher, wieder hinaus in die schöne Herbstnatur und
pflückten uns von der roten Heide um Jantjemöjs Hütte ein Andenken.
Sonderbar, diese Frau, die so viel länger als andere tausende Erdenluft
geatmet, hat ein so wichtiges Ding, wie eine Eisenbahn, nie gesehen, denn
als diese bis Bagband, ganz in ihre Nähe herankam, war's für ihre Beine
schon zu spät. Aber kommt die Maus nicht zum Berge, kommt der Berg zur
Maus.
Der Auricher Regiergungspräsident sandte ihr zum 100. Geburtstag ein
Telegramm, auf Phonographenwalzen hat sie eingesprochen, mit ihrem harten,
selten noch gehörten, alten Dialekt.
Gelegentlich
halten vor Jantjemöjs Hütte auch Automobile und man hat die Steinalte sogar
da hineingesetzt und darin geknipst. Unter diesen Eindrücken und
Gedanken gingen wir zurück durchs Moor, bis wir unseren Landauer
(Kutschwagen) wieder erreichten.
Jantjemöj war die Ur-ur-urgroßmutter meiner Frau Thea (Becker)
Wird fortgesetzt!
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Ne bruder
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